Im Wald, da sind die Räuber
Wer sich heute auf die Suche nach Räubern macht, sollte die nächsten U-Bahnhöfe aufsuchen und sich von Taschendieben erleichtern lassen. Im Wald findet sich nach Auskunft zuverlässiger Quellen kein zwielichtiges Gesindel mehr. Wenn sich dort tatsächlich einmal ein Tatort auftut, dann nur, weil eine Tatort-Kamera hinter dem nächsten Baum steht. Ansonsten hat der „Dschungel der Großstadt“ die Nachfolge des Räuberwalds angetreten.
Die Nachfolger des legendären Robin Hood sind nicht mehr. Mit ihm als dem edelsten aller Geächteten wurde einst das künftige Strickmuster für eine ordentliche Räuberkarriere gelegt. Ein braver, aufrechter Mann, zuweilen gar von adeliger Herkunft, wird vom Schicksal oder von Intrigen aus der rechten Bahn geworfen. Er flieht sodann in den Wald und gründet eine Räuberbande. Als Räuberhauptmann entwirft er eine Art Sozialprogramm, das er mit einer sehr speziellen Form von „Reichensteuer“ finanziert. Er schenkt den Armen – zu Teilen – was er den Reichen wegnimmt, das verleiht ihm später das Attribut „edel“. Seine Bande folgt seiner Idee vom sozialen Ausgleich meist nur sehr störrisch. Was innerhalb der Fraktion zu Mord und Totschlag führt. Der Räuberhauptmann, wahrscheinlich macht ihn das so gutmenschlich, ist zudem unglücklich verliebt. Zuförderst in ein Fräulein von gutem Stand, was wiederum zu heftigen Verstrickungen führt, die dann irgendwann mit dem Tod beider enden. Tragik muss sein.
„Die Räuber“ von Friedrich Schiller sind so gesehen eine astreine Schmonzette. Denn der junge Dramatiker lässt keines, aber auch wirklich keines, der oben genannten Klischees aus. Trotz oder gerade deswegen wird Karl Moor, der freiheitssuchende Anführer der Räuber bei der Erstaufführung des Stücks 1782 in Mannheim frenetisch gefeiert, Ohnmachtsanfälle bei den jungen Damen, Sinnestaumel bei den jungen Männern. Später geriet ein gewisser Johannes Bückler (1779 – 1803) aus den bayerischen Nachbarwäldern des Hunsrück bei Carl Zuckmayer in ein ähnliches Verklärungsschema. Was dann wirklich ein starkes Stück war. Denn der Schinderhannes war ein ordentlicher Krimineller, ein „Lumpenhund, ein Galgenstrick, der Schrecken jedes Mannes, und auch der Weiber Stück …“. 1803 endet das Leben des Schinderhannes unter der Guillotine der napoleonischen Besatzer.
Die historischen Räuberfiguren bayerischer Herkunft waren weniger auf das Ausnehmen von reichen Zeitgenossen spezialisiert, als auf das Zerlegen von Wild, das ihnen nicht gehörte. Der Matthias Klostermayr, alias Bayerischer Hiasl, war beispielsweise im Hauptberuf Wilderer und übte seine Gewalttaten zusagen nebenberuflich als Anführer einer „gerechte Räuberbande“ aus. Auch er mit Sozialprogramm. Erpresste Steuergelder verteilte er unter der Bevölkerung – eine unschlagbare Form des Populismus! Es heißt, dass Schiller den Bayerischen Hiasl als Vorbild für seinen Karl Moor genommen hat. In Dillingen an der Donau hat man ihn dann, nicht eben zartfühlend, 1771 gevierteilt. Den Matthias Klostermayr, nicht den Schiller.
In der Tradition des Hiasl steht dann gut hundert Jahre später Mathias Kneißl, der an einem Montag des Jahres 1901 sein Todesurteil erfuhr und cool genug war, das mit den Worten „Di Woch’ fängt fei guat an!“ zu kommentieren.
Auf mysteriöse, bis heute ungeklärte Weise verabschiedete sich der Girgl Jennerwein, als Wildschütz Jennerwein bekannt durch Theater und Film. Der Schuss, der ihn in den Rücken traf, löst heute noch ähnliche Debatten aus wie der ominöse Schuss durch den ominösen Mantel des bayerischen Königs der Könige, Ludwig II. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Moral von der Geschicht’ der Hiasl, Kneißl und Jennerwein ist denn auch eine durchaus zwiespältige. Die revolutionäre Ehre, die den bayerischen Outlaws vom Volksmund zuerkannt wurde, hat wohl sehr mit den erbärmlichen Lebensumständen der Landbevölkerung zu tun. Den Großkopferten das Wild und der Obrigkeit das Geld zu stehlen, wurde als ein sehr nachvollziehbarer, wenn nicht gar wünschenswerter Akt ausgleichender Gerechtigkeit gesehen und als tollkühne Aufsässigkeit gerühmt. Dass die Motive der Protagonisten nicht ganz so edel lagen, hat den Volksmund, seine Lieder und Moritaten bis heute nicht gekümmert.
Vor gut zwei Jahren musste sich ein vermeintlicher Wilderer vor dem Traunsteiner Landgericht verantworten. Die Sachlage schien eindeutig, die Indizien erdrückend: Der Angeklagte wurde von einem Zeugen, einem Jäger, immer wieder am Waldrand gesehen, wo zum Tatzeitpunkt ein VW-Bus parkte, den vor allem der Angeklagte fuhr, von diesem Bus führten Fußspuren durch den Schnee zum Tatort. Dort fanden die Polizisten zwar nicht den Täter, aber doch dessen Gewehr, vergraben im Schnee und vor allem: eingewickelt in ein Hemd des Angeklagten. Das einzige, was zur Verurteilung noch fehlte, waren brauchbare Zeugenaussagen. Doch außer dem Zeugen, der den Angeklagten angezeigt hatte, wollte niemand vor Gericht aussagen. Obwohl der Angeklagte im Dorf bekannt war für seine illegalen Jagdausflüge. Entnervt sprach der Richter den Mann frei, und beschwerte sich anschließend, dass die Mithilfe der Bevölkerung bei Wilderei-Delikten „ähnlich gering wie bei einer Wirtshausschlägerei“ sei.
Die illegalen Jäger imponieren dem Volk bis heute – wie wir eingangs gelesen haben. Übrigens: Im November, zum Todestag des Wildschütz’ Jennerwein, wird immer ein Geweih oder ein Gamsfell auf dessen Grab am Schliersee niedergelegt. Auch das unbekannterweise. In dieses romantisch verklärte Bild passen die modernen Wilderer jedoch längst nicht mehr. Die moralische Rechtfertigung – das ungerechte Verbot der Jagd für einfache Leute – zieht schon seit Jahrzehnten nicht mehr: Der Jagdschein ist mit etwa 2 000 Euro für Lehrgang und Prüfungsmaterialien nicht ganz billig, aber auch nicht unbezahlbar teuer. Jedenfalls ist die Jagd längst kein Privileg der Oberschicht mehr. Und das Argument der hungernden Bauern, vor deren Augen herzlose Jäger die fetten Rehe schossen, war schon im 18. Jahrhundert kein wirklich gutes, darauf verweisen schon länger Historiker und Kulturwissenschaftler wie Norbert Schindler. Bergbauern waren nicht wirklich reich, aber selbst in Zeiten größter Not mussten sie nicht hungern. Heutzutage spielt das Fleisch der gewilderten Tiere kaum mehr eine Rolle, immer öfter verfault es sogar im Wald, weil die illegalen Schützen sich häufig nur für die Trophäen interessieren, also Geweih und Kopf.
Von Romantik bleibt aber auch deswegen wenig übrig, weil die Technik Einzug gehalten hat in die Wilderei: Wo die Bauern sich früher mit Ruß im Gesicht und Gewehr auf der Schulter bei Nacht in die Berge schlichen, steuern die heutigen Wilderer oft genug ihren Jeep von Lichtung zu Lichtung, bis ein Reh oder Hirsch im Scheinwerferkegel auftaucht – das Tier bleibt erstarrt im Lichtkegel stehen und kann in aller Ruhe erlegt werden, aus dem geöffneten Fenster. Restlichtverstärker oder Nachtsichtgeräte sind keine Seltenheit, Zielfernrohr ist üblich, Schalldämpfer gehören zur Standardausstattung des modernen Wilderers. Klar: Ein lauter Knall, der durch ein Gebirgstal hallt, alarmiert den Jäger. Ein schallgedämpfter Schuss ist nur ein paar Meter weit hörbar, es macht leise ‚Plopp‘ – und das Reh fällt um. Wenn es denn perfekt getroffen wurde. Genau das ist nämlich das Problem: Kugeln größeren Kalibers mit hoher Energie, die Jäger schon allein aus Tierschutzgründen verwenden, töten zuverlässig, können jedoch nicht so gut gedämpft werden. Die kleinen, schwachen Kaliber hinge gen, mit denen Wilderer deswegen schießen, müssen schon ganz genau im Ziel landen, in der Lunge zum Beispiel, damit das Tier auf der Stelle tot ist. Werden Reh oder Hirsch nur angeschossen, flüchten sie panisch ins Unterholz, wo sie verbluten. Oder sie humpeln für immer mit verkrüppelten Beinen durch den Wald. „Wir haben schon Hirsche gefunden, die verhungert sind, weil Wilderer ihnen mit ihren kleinen Kugeln den Unterkiefer zertrümmert haben“, erzählt Dieter Stiefel, Wildererexperte des Bayerischen Kriminalamts.
Aber nicht nur gegenüber Tieren verhalten die gesetzlosen Jäger sich rücksichtslos. Wenn Jäger oder Jagdpächter Wilderer melden, müssen sie mit Racheakten aller Art rechnen. Sätze wie „ein Haus ist schnell angezündet“ fallen öfter, wenn Leute gefragt werden, warum sie sich gegen Wilderei nicht wirklich wehren. Im oben erwähnten Fall wurden dem Jäger, der den vermeintlichen Wilderer angezeigt hatte, zwei Jagdstände zerstört und der Fischweiher trocken gelegt, zweimal. Der Schaden: 5 000 Euro.
Letztlich sind auch die Familien der Wilderer betroffen. Vor einiger Zeit schrieb die Frau eines ehemaligen Wilderers unter dem Pseudonym Hella Huber ein Buch: „Jennerweins Erben – Die Frau des Wilderers“. Darin schildert sie, wie ihre drei Kinder und sie selbst darunter litten, dass der Familienvater seinen Drang zur Wilderei nicht in den Griff bekam. Zweimal musste er für jeweils etwa ein Jahr ins Gefängnis, zweimal stand sie alleine da mit den Sorgen um die Existenz. Ihrem Mann war das relativ gleichgültig: Er war im ganzen Umkreis bekannt als „König der Wilderer“. Und das war für ihn, was zählte. Noch heute ist sein ganzer Stolz in seinem Wohnzimmer zu sehen, dutzende Geweihe, Felle und ausgestopfte Tiere. Daneben: Ein kitschiges Gemälde, das den edlen Wildschütz Jennerwein zeigt, wie er mutig der verbotenen Jagd nachgeht. So, wie es früher einmal war. Vor langer Zeit.
Text: Gernot Wüschner und Bastian Obermayer
Foto: Matthias Ziegler